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Félix „Andarín“ Carvajal, ein Postbote aus San Antonio de los Baños, gilt als einer der ungewöhnlichsten Marathonläufer der Olympiageschichte. Ohne Ausrüstung und Unterstützung lief er 1904 beim Marathon in St. Louis auf den vierten Platz. Sein Lauf steht bis heute für die Hartnäckigkeit, mit der Kubanerinnen und Kubaner Widrigkeiten begegnen.
13.10.2025 07:47 Uhr
Félix de la Caridad Carvajal y Soto, besser bekannt als „Andarín“ (der Fußgänger), gilt als eine der bemerkenswertesten Figuren der frühen olympischen Geschichte. Der 1875 im westkubanischen San Antonio de los Baños geborene Postbote wurde durch seinen unkonventionellen Auftritt beim Olympischen Marathon von St. Louis 1904 weltbekannt – und in seiner Heimat zum Sinnbild des kubanischen Durchhaltewillens.
Schon als Briefträger in Havanna hatte Carvajal den Ruf eines Mannes, der weite Strecken zu Fuß bewältigte. Er nutzte seine körperliche Ausdauer, um auf der Insel Aufmerksamkeit für soziale Anliegen zu erzeugen. In den Jahren vor den Olympischen Spielen organisierte er Läufe quer durch Kuba, um Spenden für Bedürftige zu sammeln – ein ungewöhnliches Unterfangen in einer Zeit, in der organisierter Sport auf der Insel kaum existierte. Als 1904 die Nachricht von den Olympischen Spielen in den Vereinigten Staaten Kuba erreichte, beschloss Carvajal, sein Land dort zu vertreten. Eine offizielle Delegation gab es nicht. Carvajal sammelte das Geld für die Überfahrt nach New Orleans auf eigene Faust, verlor es jedoch kurz nach seiner Ankunft – je nach Quelle beim Glücksspiel oder durch Diebstahl. Ohne finanzielle Mittel machte er sich zu Fuß und per Anhalter auf den rund 1.000 Kilometer langen Weg nach St. Louis, wo die Wettbewerbe stattfanden. Bei seiner Ankunft war der Kubaner abgemagert und verfügte über keine Sportausrüstung. Ein Mitläufer schnitt ihm die Hosenbeine ab, damit er zumindest in kurzen Hosen antreten konnte. In dieser improvisierten Kleidung startete Carvajal im olympischen Marathon – einem Wettkampf, der als einer der chaotischsten in die Sportgeschichte eingegangen ist. Die Temperaturen lagen bei über 30 Grad, die Strecke war staubig, und Wasserstellen waren kaum vorhanden. Während zahlreiche Athleten aufgaben oder kollabierten, lief Carvajal weiter. Unterwegs hielt er kurz an, um einige Äpfel von einem Obstgarten zu essen – sie waren verdorben und führten zu Magenkrämpfen. Trotzdem beendete er das Rennen und erreichte den vierten Platz, ein außergewöhnliches Ergebnis unter den extremen Bedingungen. Carvajals Auftritt wurde in den Vereinigten Staaten als Kuriosität wahrgenommen, in Kuba jedoch als Ausdruck nationaler Stärke. Die Geschichte des armen Läufers, der ohne Vorbereitung, Ausrüstung oder Unterstützung antrat und dennoch erfolgreich war, passte in das kollektive Selbstverständnis einer Gesellschaft, die sich immer wieder gegen widrige Umstände behaupten musste. Carvajal wurde zum Symbol für die Fähigkeit, Rückschläge mit Würde, Humor und Ausdauer zu überwinden – Eigenschaften, die im kubanischen Selbstbild tief verankert sind. Nach seiner Rückkehr nach Kuba feierten ihn die Zeitungen als Volkshelden. Carvajal nahm in den folgenden Jahren an weiteren Läufen teil, unter anderem in Havanna und Madrid, und blieb bis zu seinem Tod 1949 sportlich aktiv. Reichtum oder materiellen Erfolg brachte ihm sein Ruhm nicht ein. Doch sein Name blieb im kollektiven Gedächtnis präsent. In Kuba tragen heute Straßen, Schulen und Sportveranstaltungen seinen Namen. Mehr als ein Jahrhundert später gilt Carvajal als eine frühe Verkörperung der kubanischen Resilienz, jener Fähigkeit, Entbehrungen mit Stolz und Humor zu begegnen. Sein Lauf in St. Louis war kein sportlicher Triumph im klassischen Sinn – sondern ein Akt der Selbstbehauptung. In ihm verdichtete sich ein Motiv, das die kubanische Geschichte bis heute prägt: die Beharrlichkeit, trotz widriger Umstände das eigene Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Quellen: Encyclopaedia Britannica: How to Make Friends at a Marathon – Felix Carvajal, Wikipedia (englisch, deutsch, spanisch, französisch): Andarín Carvajal, Smithsonian Magazine (2014): How the 1904 Marathon Became One of the Weirdest Olympic Events of All Time, Løpe Magazine (2021): The Wild Journey of Félix "Andarín" Carvajal
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Text: Leon Latozke
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