Neues aus Kuba
Aktuelle Nachrichten und Meldungen, Analysen und Hintergrundinformationen
Die anhaltende Krise in Kuba zu immer größeren sozialen Ungleichheiten. Drei Soziologen des kubanischen Forschungszentrums CIPS analysieren die Ursachen und warnen vor einer tiefen gesellschaftlichen Spaltung.
Von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, verschärft sich in Kuba seit Jahren eine vielschichtige Krisensituation, die nun tiefgreifende soziale Ungleichheiten sichtbar macht. Drei führende Soziologen des staatlichen „Centro de Investigaciones Psicológicas y Sociológicas“ (CIPS) äußerten sich in einem Interview mit der Nachrichtenagentur EFE zu den Folgen dieser sogenannten Polykrise – einer verwobenen Mehrfachkrise, in der wirtschaftliche, gesellschaftliche und infrastrukturelle Probleme ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken.
Eine Polykrise mit tiefgreifenden sozialen Folgen Die Begrifflichkeit der Polykrise beschreibt nach Einschätzung von Enrique Gómez Cabezas, Koordinator des CIPS-Arbeitskreises für Sozialpolitik und Ungleichheiten, eine Situation, in der sich multiple Problemlagen überlagern und strukturell miteinander verwoben sind. In Kuba äußere sich dies in einem nahezu flächendeckenden Mangel an Ressourcen und Funktionsfähigkeit: Stromausfälle von bis zu 20 Stunden lähmen Industrie, Verwaltung, Landwirtschaft und Privathaushalte; es fehlt an Gas zum Kochen, die Apotheken sind nahezu leer, Grundnahrungsmittel wie Brot werden rationiert, und der öffentliche Nahverkehr steht wegen Treibstoffmangels vielerorts still. Gómez Cabezas spricht von einer „Alltagsrealität der Mängel“. Die Soziologin Mirlena Rojas Piedrahita beschreibt, dass selbst das vielzitierte Konzept der Resilienz kaum mehr ausreiche, um die Reaktionen der Bevölkerung zu beschreiben. Die Gesellschaft befinde sich in einem Zustand permanenter Unsicherheit, der chronischen Stress und eine Art kollektive Erschöpfung hervorrufe. Gleichzeitig sei deutlich zu erkennen, dass die Auswirkungen der Krise nicht gleichmäßig verteilt sind. Soziale Ungleichheit als Folge struktureller Brüche Demnach, ist die wachsende soziale Ungleichheit das sichtbarste Symptom der Polykrise. Während einige Kubaner Zugang zum besser entlohnten Privatsektor haben, in der Lage sind, einen Generator für Stromausfälle anzuschaffen oder über ausreichende Mittel zur Auswanderung verfügen, bleiben andere weitgehend ohne Perspektive. Diese sich vertiefende Kluft spiegelt laut den Fachleuten eine tiefgreifende soziale Re-Stratifizierung und die Neubildung sozialer Schichten wider, die bereits mit den wirtschaftlichen Reformen unter Raúl Castro ab dem Jahr 2011 einsetzte. Diese sogenannte actualización del modelo económico („Aktualisierung des Wirtschaftmodells“) führte zu einer vorsichtigen Liberalisierung der Wirtschaft und schuf damit neue Möglichkeiten – allerdings nicht für alle. Der Gini-Koeffizient, ein international etabliertes Maß für soziale Ungleichheit, ist nach konservativen offiziellen Angaben von 0,25 (1989) auf heute 0,4 bis 0,5 gestiegen. Damit bewegt sich Kuba inzwischen auf dem Niveau vieler lateinamerikanischer Staaten wie Argentinien oder Panama. Trotzdem warnen die Soziologen vor einer vorschnellen Gleichsetzung mit anderen Ländern der Region. Zwar habe sich die Lage bei Indikatoren wie Kindersterblichkeit, Armutsquote und Kriminalität verschlechtert, doch gebe es nach wie vor grundlegende Unterschiede. In Kuba seien Gesundheitsversorgung und Bildung weiterhin kostenlos und universell zugänglich – zumindest prinzipiell. In der praktischen Umsetzung jedoch nehme auch hier die Qualität spürbar ab. Staatliche Rückzüge und private Strategien Die zunehmende soziale Ungleichheit geht laut Enrique Gómez Cabezas auch mit einem Rückzug des Staates aus ehemals zentralen Versorgungsaufgaben einher. Viele Funktionen der sozialen Absicherung seien inzwischen auf Familienstrukturen oder individuelle Überlebensstrategien übergegangen. Ein besonders auffälliger Ausdruck dieser Entwicklung ist die massive Migrationswelle der letzten Jahre. Wie EFE berichtet, haben zwischen 14 und 25 Prozent der Bevölkerung Kuba seit 2021 verlassen – ein historisch beispielloses Ausmaß. Migration wird in weiten Teilen der Gesellschaft nicht mehr als Ausnahme oder Notlösung gesehen, sondern als legitime Strategie zur Verbesserung der Lebensumstände. Die Entscheidung zur Auswanderung sei heute zunehmend individuell motiviert, nicht mehr primär eine kollektive Familienstrategie, so die Einschätzung von Jusmary Gómez Arencibia, Koordinatorin der kubanischen Netzwerke für soziale und solidarische Wirtschaft. Diese Dynamik verstärke jedoch erneut bestehende Ungleichheiten. Denn nicht alle können sich eine Ausreise leisten. Besonders afrokubanische Bevölkerungsgruppen seien benachteiligt – eine Tatsache, die Rojas Piedrahita mit dem prägnanten Satz zusammenfasst: „Migration hat eine Hautfarbe.“ Forderung nach gezielter Sozialpolitik Die drei Soziologen sind sich einig, dass die bisherige staatliche Sozialpolitik den gegenwärtigen Herausforderungen nicht mehr gerecht wird. Universelle Maßnahmen allein könnten die bestehenden Unterschiede nicht aufheben – im Gegenteil: Wer bereits besser gestellt sei, könne staatliche Angebote gezielter nutzen und sich zusätzliche Vorteile sichern. Andere hingegen würden dauerhaft benachteiligt bleiben. Deshalb fordern die Expertinnen und Experten einen Paradigmenwechsel: weg von einheitlichen Lösungen hin zu gezielter, kontextbezogener Politikgestaltung. Es brauche eine aktive Anerkennung der Ungleichheit und darauf aufbauend Maßnahmen zur Förderung benachteiligter Gruppen, lokale Gerechtigkeitsstrategien und sozialpolitische Fokussierung. Der Staat müsse die soziale Realität differenzierter betrachten und seine Maßnahmen entsprechend anpassen. Fazit: Eine Gesellschaft am Scheideweg Wie die Zeitung EFE zusammenfassend schließt, führt die andauernde Polykrise zu einer fundamentalen sozialen Spaltung in Kuba. Die einstige Vision eines weitgehend egalitären Gesellschaftsmodells wird durch wirtschaftliche Notlagen, migrationsbedingte Entwurzelung und strukturelle Benachteiligungen zunehmend ausgehöhlt. Die Analyse der drei CIPS-Soziologen macht deutlich: Ohne eine tiefgreifende Neuausrichtung der Sozial- und Wirtschaftspolitik droht Kuba langfristig die Erosion seines gesellschaftlichen Zusammenhalts – mit weitreichenden Folgen für das Selbstverständnis der Revolution und den sozialen Frieden im Land.
Quelle: EFE (https://t1p.de/75r9q)
Anzeige (G2)
|
|
Letzte Meldungen
Text: Leon Latozke
Anzeige (G1)
(adsbygoogle = window.adsbygoogle || []).push({});
0 Kommentare
Ihr Kommentar wird veröffentlicht, sobald er genehmigt ist.
Antwort hinterlassen |
Dossiers
Mediathek
Anzeige (M2) Anzeige (G4) Archiv
nach Monaten
Juni 2025
|
Anzeige (G3) |