Neues aus Kuba
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Inmitten der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten setzen viele Kubaner ihre Hoffnung auf ein illegales Glücksspiel: la bolita. Trotz des seit 1959 geltenden Glücksspielverbots floriert die inoffizielle Lotterie und bewegt täglich Millionenbeträge.
Inmitten der schwersten Wirtschaftskrise seit drei Jahrzehnten erlebt Kuba eine bemerkenswerte Renaissance eines lange verbotenen Phänomens: der illegalen Lotterie „la bolita“. Wie die französische Nachrichtenagentur AFP berichtet, setzen täglich Millionen Kubaner trotz strafrechtlicher Verbote auf die Hoffnung, durch einen Lottogewinn ihre prekäre Lage zu verbessern. Die Wurzeln des Spiels reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück, doch in Zeiten wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit erlebt das Glücksspiel nun einen regelrechten Boom.
Die Regeln von „la bolita“ sind denkbar einfach. Gespielt wird mit Zahlen von 1 bis 100, denen jeweils Symbole zugeordnet sind – etwa ein Pferd für die Eins oder ein Schmetterling für die Zwei. Die Ziehungen erfolgen jedoch nicht in Kuba selbst, sondern orientieren sich an den offiziellen Lotterieergebnissen aus den US-Bundesstaaten Florida, Georgia und New York. Diese werden von den Teilnehmern über das Internet oder soziale Netzwerke wie Facebook, WhatsApp oder X verfolgt. Die Einführung des mobilen Internets im Jahr 2018 hat dem Spiel neuen Auftrieb gegeben. Der Vertrieb erfolgt vollständig im Verborgenen, aber gut organisiert über ein dezentrales System aus sogenannten „apuntadores“, „recolectores“ oder „corredores“ und „banqueros“. Die „apuntadores“ sind die direkten Ansprechpartner für die Spieler. Sie sammeln die Wetten ein – meist persönlich, auf der Straße, im Viertel oder bei Stammkunden. Sie sind das „Gesicht“ der Lotterie, häufig mit den Spielern gut bekannt und erhalten eine Provision, meist ein prozentualer Anteil der gesammelten Einsätze. „Recolectores“ oder „corredores“ sind das Bindeglied zwischen den „apuntadores“ und den „banqueros“. Sie sammeln die Einsätze, die von mehreren „apuntadores“ zusammengetragen wurden, und leiten diese weiter an die „banqueros“. Sie bewegen sich zwischen Stadtteilen oder Regionen und organisieren die tägliche Weitergabe der Einsätze. Da sie mit größeren Beträgen hantieren, müssen sie besonders vertrauenswürdig sein. Die „banqueros“ sind das Rückgrat des Systems – vergleichbar mit Buchmachern oder Spielbanken. Sie verwalten die täglichen Einnahmen, die täglich landesweit auf ein Volumen von mehreren Millionen Pesos geschätzt werden. Sie berechnen Gewinne und zahlen diese aus. Sie entscheiden auch, wie viel auf welche Zahlen gesetzt werden darf (ähnlich wie bei Quoten). Die „banqueros“ tragen das finanzielle Risiko, wenn viele Spieler auf eine gewinnende Zahl setzen. Manche führen ihr „Geschäft“ allein, andere in Gruppen oder Netzwerken. Die Vertrauensbasis ist entscheidend, da alles informell geschieht. Dabei gibt es keinerlei offizielle Kontrolle, das gesamte System basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Trotz der Illegalität – Glücksspiel ist in Kuba seit 1959 verboten – ist „la bolita“ weit verbreitet und für viele Menschen zu einem Teil ihres Alltags geworden. Der Einsatz beginnt schon bei wenigen Pesos, also Cents in Dollar umgerechnet, und reicht bis hin zu höheren Beträgen. Für viele ist es der letzte verbleibende Hoffnungsschimmer in einem Land, das unter Inflation, Lebensmittel- und Medikamentenknappheit sowie regelmäßigen Stromausfällen leidet. „Die Leute setzen mehr als je zuvor“, zitiert AFP Carlos – einen Mann in den Vierzigern, der seinen echten Namen aus Angst vor Repressalien nicht nennen will. „Wenn du weißt, dass dein Gehalt nicht bis zum Monatsende reicht, bleibt dir nur noch das Glück.“ Wie groß die Verzweiflung ist, zeigt ein Blick auf die offiziellen Zahlen: Das durchschnittliche Monatseinkommen in Kuba liegt derzeit bei umgerechnet etwa 42 US-Dollar. In diesem Kontext erscheinen Lottogewinne, wie sie etwa der 47-jährige Rogelio gegenüber AFP beschreibt, als schier unglaubliche Glücksfälle: Er gewann in nur zwei Wochen umgerechnet 2.250 Dollar – das 61-fache seines Monatslohns. Solche Geschichten nähren die Hoffnung, doch für viele bleibt der Gewinn aus. „Man sagt sich nicht mehr guten Morgen, sondern fragt, welche Zahlen gezogen wurden“, sagt 32-jährigen Rubén, der schon lange keinen Gewinn mehr erzielt hat, zu AFP. Der gesellschaftliche Einfluss der Lotterie zeigt sich auch im Aberglauben, der rund um das Spiel kultiviert wird. Viele Teilnehmer wählen ihre Zahlen basierend auf Träumen oder symbolischen Erfahrungen. In den Zeiten Fidel Castros galt beispielsweise die Zahl Eins – das Pferd – als besonders verheißungsvoll, da der Revolutionsführer selbst den Spitznamen „Das Pferd“ trug. Diese symbolische Aufladung verleiht dem Spiel eine fast mystische Komponente, die tief in der kubanischen Alltagskultur verankert ist. Doch die Schattenseite ist nicht zu übersehen. Laut Carlos geraten viele Menschen in Schulden, weil sie mehr Geld setzen, als sie sich leisten können. Er selbst lebt von einer zehnprozentigen Provision auf die täglichen Einnahmen – ein riskanter Beruf, der ihn zur völligen Diskretion zwingt. Denn auch heute noch drohen hohe Strafen: Das kubanische Strafgesetzbuch sieht bis zu drei Jahre Haft und Geldbußen von bis zu 300.000 Pesos (rund 2.500 US-Dollar) für Glücksspielaktivitäten vor. Dabei war Kuba einst ein Paradies für Spieler. In den 1940er- und 1950er-Jahren war Havanna ein Mekka des Glücksspiels, mit prächtigen Casinos, Spielsalons und einer florierenden Szene, die eng mit der amerikanischen Mafia verbunden war. Namen wie Meyer Lansky und Lucky Luciano planten eine Kette von Hotel-Casinos entlang des Malecón, der berühmten Uferstraße Havannas. Mit dem Triumph der Revolution 1959 beendete Fidel Castro dieses Kapitel abrupt – die Spielhöllen wurden geschlossen, die Mafia vertrieben. Wie der amerikanische Journalist T. J. English in seinem Bestseller Havana Nocturne beschreibt, verlor Kuba seinen Status als Glücksspielparadies an Las Vegas, das heute zu den größten Spielzentren der Welt zählt. Doch die Geschichte des Glücksspiels auf der Insel hat trotz Verbots überlebt – in neuen Formen, mit alten Träumen. „La bolita“ ist heute weit mehr als ein Spiel. Sie ist Ausdruck einer tiefen Hoffnungslosigkeit in einer Gesellschaft, in der viele den Glauben an politische und wirtschaftliche Lösungen verloren haben. Und sie ist ein Spiegelbild der tiefen sozialen Ungleichheiten, die auch nach mehr als sechs Jahrzehnten Sozialismus nicht überwunden wurden.
Quelle: France 24 (https://t1p.de/0mcgy)
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Text: Leon Latozke
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